„Wir Menschen haben es nicht geschafft ein globales menschenwürdiges System zu entwickeln. Hunger, Krieg und Naturkatastrophen herrschen auf der Erde und zerstören unseren Lebensraum. In diesem Spiel gibt es Schuldige und Unschuldige. Seit meiner frühesten Kindheit hielt ich es für eine lebenswichtige Notwendigkeit mittels meiner Kreativität die Realität, in der ich auf Erden lebe, zu zeigen und die Schuldigen zu benennen. Das gibt mir Sinn weiter zu existieren. „
Raúl Avellaneda Indacochea wurde 1960 in Lima, der Hauptstadt Perus, geboren.
Seine Familie wohnte damals in der peruanischen Andenstadt Huancayo. Dort hatten sie sich als „Weiße Herrscher“ und Großlandbesitzer von mehreren Häusern und tausend Hektar Land angesiedelt. Sie folgten der Familientradition als Nachkommen der spanischen Eroberer und deutschen Adligen aus Hamburg, somit setzten sie die Unterdrückungskultur ihrer Vorfahren fort.
„Ich sah wie mein Vater und seine Komplizen, arme Mütter und ihre Kinder zu Pferde und mit Peitschen überfielen, als sie hungrig in der Dunkelheit versuchten, die verdorbenen Reste der großen Ernte als Nahrung für sich zu sammeln.“
Der latente Rassismus solcher Familien veranlasste damals seine Mutter, kurz vor der Geburt ihrer Kinder, in die Hauptstadt Lima zurückzufahren, um sie dort zu gebären. Damit wollte sie jegliche Verbindung zu der Rasse des ursprünglichen Volkes, der Indios, verhindern. Auf diese Weise sollte ein „sauberer weißer Start“ für die Zukunft ihres Nachwuchses garantiert werden.
„Mein `gesunder Kinderverstand´ sagte mir von Kind an, dass das, was als normal gelten sollte, etwas Böses und Ungerechtes ist. Ich kann mich daran erinnern, dass ich meinen Vater jeden Morgen mit dem Hitlergruß `Heil Hitler´ begrüßen musste, ohne dessen Bedeutung zu erahnen.“
Geplagt von katholischen Ritualen und der aggressiven faschistischen Haltung der Familie, suchte das Kind ein Refugium in seiner Phantasie. Sehr früh hatte er das Bedürfnis seine Ohnmacht in Bildern umzusetzen. Die kontinuierliche Fürsorge des Kindermädchens María machte aus ihr seine wichtigste Lebensbegleiterin.
„Mein Kindermädchen hieß María, sie wurde in Huancayo in den Anden geboren und arbeitete für meine Familie. Sie erhielt dafür einen Hungerlohn. Sie kochte, putzte und kümmerte sich um uns vier Kinder. Sie war ein Mädchen für alles und schlief auf dem Boden vor meinem Zimmer. María begleitete mich mein Leben lang, sie war immer an meiner Seite, mit tiefem Gefühl, Hingabe und Solidarität. Bei ihr konnte ich das vermisste Familiengefühl finden. Sie war die wichtigste Person in meinem Leben.“
Im Juli 1966 starb seine Mutter, Mercedes Indacochea de Avellaneda, an einem Aneurysma in der Andenstadt Huancayo.
Damit sollte das Schicksal einen neuen Weg nehmen, fern von den vorprogrammierten Ambitionen für die vier Kinder dieser Ehe. Sie sollten, entsprechend der letzten Wünsche der Mutter, in einer deutschen Schule, in der Hauptstadt Perus, Lima, eingeschult werden. Dort sollten sie, als Nachkommen der von Ribbecks, die deutsche Sprache lernen und mit der deutschen Kultur erzogen werden, damit sich ihnen große Tore für die weitere familienbezogene, gesellschaftliche und finanzielle Entwicklung eröffnen.
„Mein Leben in der Hauptstadt, an der peruanischen Küste, war weiterhin von Einsamkeit, Tod, Traurigkeit und Unheil geprägt. Von den Anden zur Küste gebracht, in die fremde Pestalozzi Schule eingeschult und begleitet von der Mutter meiner Mutter, bis zu ihrem baldigen Tod, fing ein neuer Abschnitt meines Daseins an.„
Die faschistische Überzeugung des Vaters setzte sich in der Hauptstadt fort. Dario Avellaneda Ribbeck verwaltete weiterhin das Landgut und sorgte dafür, dass der Gewinn, ohne Rücksicht auf die Gesundheit und die Lebensbedingungen der Ureinwohner, die für ihn arbeiten mussten, vermehrt wurde. Die reaktionären politischen Kräfte des Landes, gemeinsam mit Kirche und Militär, sorgten bekannterweise in Südamerika dafür, dass die Sicherheit der Großgrundbesitzer garantiert wurde.
Die Kinder der weißen Minderheit, durften nur mit anderen weißen Kindern, aus der selben gesellschaftlichen Klasse, spielen. Von Anfang an sollte Sorge dafür getragen werden, dass die Macht der weißen Familien erhalten blieb.
„Ich zeichnete in jeder freien Stunde. Ich kann mich an ein Bild erinnern: Ich stellte ein Orchester auf dem Friedhof dar. Alle Toten wurden von einem Anführer gezwungen blutend aus ihren Gräbern aufzustehen, um an einem Musikstück mitzuwirken.“
Avellaneda arbeitete zurückgezogen an mehreren Zeichnungen und Bildern. Die Notwendigkeit, Situationen darzustellen, die sein Leben widerspiegelten, entwickelte sich zusehends.
„Mein Vater akzeptierte mein künstlerisches Interesse nicht. Eines Tages sammelte er alle meine Zeichnungen, sortierte sie aus und alles, was er als anstößig empfand, verbrannte er auf der Terrasse des Hauses.
Mich faszinierten die Unterschiede zwischen Leben und Tod, zwischen Schönheit und Hässlichkeit, zwischen Gut und Böse. Als ich krank im Bett lag, lernte ich, über eine Fernsehserie, das Leben von Leonardo da Vinci kennen. Seitdem blieb er, mit all seiner Widersprüchlichkeit, ein treuer Lebensgefährte.“
Avellaneda kopierte, mit resoluter Hingabe, Leonardos Bilder in Originalgröße, immer mit der traurigen Gewissheit, den Originalen, im fernen Europa, nie zu begegnen. Er erforschte Leonardos Techniken, experimentierte mit Farben und Substanzen, schließlich lernte er von rechts nach links zu schreiben, um Botschaften in seinen Bildern zu verbergen.
Im Jahr 1978 wurde Raúl Avellaneda in der „Escuela de Artes Plásticas“ (Hochschule für bildende Kunst) der katholischen Universität in Lima aufgenommen und begann dort, mit 17 Jahren, sein Kunststudium. Fasziniert von der Möglichkeit Kunst als Beruf zu verfolgen, arbeitete er sehr intensiv und erfüllte erfolgreich die verlangten Bedingungen.
„Ich fühlte mich wie befreit, ich lernte das erste Mal in meinem Leben Menschen kennen, die dieselben Interessen hatten wie ich und war sehr glücklich über meinen neuen Lebensweg. Eifrig erfüllte ich bald alle erwarteten Voraussetzungen, um eine gute Karriere entwickeln zu können. Jedoch, meine individuellen emotionalen und beruflichen Erwartungen führten für mich zu Konflikten, mit der widersprüchlichen Lebensart meiner Mitstudierenden und der konservativen Einstellung der Kunstakademie.“
Die akademische, beinah dogmatische Vorgehensweise, der 1969 gegründeten Kunstakademie verhinderte die freie kreative Entfaltung der Studierenden. Trotzdem entwickelte Avellaneda eine sehr persönliche Bildsprache, die weit über die gewohnten Normen hinausging. Seine persönliche Unzufriedenheit ist in seinen damaligen Arbeiten bemerkbar.
„Mir wurde bewusst, dass ich unter den gegebenen Umständen keine Möglichkeit bekommen würde, meine authentische, innere künstlerische Suche weiter zu entwickeln. Der Frust breitete sich in meiner Seele aus und führte mich zur inneren Verzweiflung.“
Seine Unzufriedenheit, mit der akademischen Haltung der Kunsthochschule, bewog ihn nach anderen Möglichkeiten kreativer Begegnungen zu suchen. Daraus folgend gründete er im Mai 1982 eine Werkstatt für kreatives Gestalten auf dem Gelände der psychiatrischen Anstalt Larco Herrera und arbeitete dort künstlerisch mit psychisch erkrankten Menschen. Sein Interesse für die Außenseiterkunst (Art Brut) blieb bis heute lebendig.
Im Sommer 1982 wurde H.J. Psotta als Gastprofessor von der „Escuela de Artes Plásticas“ eingeladen. Psottas bewusstseinserweiternder Einfluss auf die akademische, elitäre und konservative Methode der Universität stand im Einklang mit Avellanedas Haltung.
„Meine Begegnung mit Helmut Psotta übertraf alle meine Erwartungen, ich bekam das Gefühl wiedergeboren zu sein; es öffneten sich unverhoffte Türen, die mir meine verlorene Freiheit zurückgaben. Ich stellte meine gesamte Existenz in Frage, ich fing an, mein neues Leben zu lieben…“
Helmut J. Psotta beschrieb in einem Brief an Ruth Johow die in der Universität vorgefundene Situation:
Oft ist es schwierig, gegen die herrschende politische Lethargie und Gleichgültigkeit in der Universität anzukämpfen, weil es immer nur um Meßbares, Resultate geht, die nach meiner Überzeugung ohne konstruktive Voraussetzungen und unter ziemlich repressiven Bedingungen zustandekommen, – zwischen mir und den anderen liegen Welten, ideologisch und menschlich, alles ist verunsichert, überfordert, meine Kraft isoliert das Schwache automatisch, sondert alles ab, was nicht authentisch ist … Es gelingt mir nun (Gott-sei-dank!) nicht mehr, die geringste Konzession an mittelmäßige Vorstellungen zu machen, – was ich berühre, muß sich ändern, sonst interessiert es mich nicht mehr! Hunderte von Arbeiten sind entstanden, ganze Säle voll, von einem unfaßbaren Leben und großer Qualität – und dieser wahnsinnige Kontrast wird unerträglich – – –
Psotta an Johow, undatiert [Mai/Juni 1982], Archiv HJP (A. Beck).
Nur wenige Wochen nach seiner Ankunft realisierte Psotta, am Pazifischen Ozean, Foto-Aktionen über das Sterben eines bösen Mythos. Hierfür bündelte er unterschiedliche kreative Kräfte einiger Studenten, in einer gemeinsamen Performance am Meer.
„Das erste Mal in meinem Leben fühlte ich die Kraft einer gemeinsamen Gruppenarbeit. Helmut zeigte mir mit seinen Aktionen ungeahnte Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks, diese Erfahrungen und seine uneingeschränkte Solidarität begleiten mich seitdem ein Leben lang.“
Avellaneda hinterfragte sein gesamtes Wissen und Können und begann mit seiner künstlerischen Arbeit auf die aktuelle politische und gesellschaftliche Realität Perus, basierend auf den eigenen biographischen Erfahrungen, hinzuweisen. Er und mehrere Studierende, durch den befreienden Einfluss Psottas motiviert, stellten das gesamte System der Akademie in Frage und setzten sich, über künstlerischen Ausdruck mit der dramatischen politischen Situation ihres Landes auseinander.
Er zog in eine Einzimmerwohnung in der Nähe der Universität, um dort, in aller Unabhängigkeit, an seinen ersten „Befreiungsbildern“ zu arbeiten.
Helmut J. Psotta schrieb in einem Brief an Ruth Johow über den Künstler:
…Heute nacht war ich im Atelier vom Raúl, diese andere, noch extremere Sucht, die mich befallen hat, – seine ungeheuerliche Wirklichkeit beherrscht mich total, – niemals habe ich für möglich gehalten, daß es soviel manifestes Talent in einem so jungen Menschen geben kann, soviele Widersprüche in einer einzigen Person: Unbändige, wildeste Kraft und tiefste, weicheste Zärtlichkeit, scharfer Verstand und sehr, sehr einfache Emotionen; das bisherige Leben dieses Jungen ist wie eine phantastische Erfindung wahnsinniger Ereignisse, die an der Grenze des Absoluten balancieren; seitdem er mich kennt, arbeitet er wie in einem fiebrigen Rausch, unter ständigem psychischen Streß; – es ist für mich unmöglich, zu begreifen, woher er die schreckliche Energie und körperliche Kraft nimmt, um diese ungeheuerlichen Sachen zu malen; jeden Tag holt er mich, um mir eine neue Arbeit zu zeigen (einmal haben wir uns nicht gesehen, und er wurde sofort krank; meine physische Anwesenheit scheint der Motor für seine unheimliche Aktivität zu sein; der kleinste Anlaß genügt, um ihn zu einer neuen Arbeit zu „erregen“, die dann auch sogleich auf großen Formaten entsteht, – Raúl ist davon überzeugt, daß ich die Ursache seiner schöpferischen Energie bin, – aber das bezweifle ich, – vielleicht bin ich durch meine erotische, freie Bindung (oder gebundene Freiheit,die uns beide für-einander auf einer biologisch-geistigen Ebene bedingt und abhängig (!) macht) an ihn Antrieb, Auslöser, – aber ich sträube mich dagegen, bei einem so genialen jungen Menschen Ursache für irgendetwas sein zu können. Mein Gott, wie wenige solcher herrlicher Wesen gibt es in dieser Welt und wieviele von diesen beschissenen Spießern, die ihre vollgefressenen Bäuche und ausgemergelten Gesichter, ihre erbärmlichen Rülpser auch noch für Zeichen eines „anständigen“ Lebens halten…
Psotta an Johow, undatiert [Mai/Juni 1982], Archiv HJP (A. Beck).
Schließlich entschieden H.J. Psotta, Raúl Avellaneda und Sergio Zevallos, vereint durch persönliche und berufliche Interessen, die feindselige Universität zu verlassen, um sich in ein Haus am Rande von Lima, im Distrikt von Chaclacayo, zurückzuziehen. Hier arbeiteten sie an einem multimedialen künstlerischen Projekt über den Tod.
„Im Haus in Chaclacayo hatte ich das erste Mal in meinem Leben das Gefühl von Heimat. Ich war an einem Ort angekommen, wo ich mich durch Helmuts Solidarität, wiederfinden konnte. Die Liebe, die Natur und meine künstlerische Arbeit machten aus sieben Jahren die wichtigste Zeit in meinem Leben. Meine Erfahrungen in der Zeit prägten bis heute meine Existenz.“
Dort entwickelte die, nach dem Ort genannte, „Grupo Chaclacayo“ das Projekt, das 1984 im Kunstmuseum Lima gezeigt wurde, unter den Titel „Perú…ein Traum“.
Die konsequente Haltung der Gruppe, bei der Präsentation dieser Ausstellung, gegenüber den politischen Umständen, in dem vom Bürgerkrieg geprägten Land, führte von gefährlichen Stigmatisierungen bis zu den destruktiven Absichten das Kollektiv mit dem bewaffneten Widerstand der Guerilla Gruppe „Der Leuchtende Pfad“ in Verbindung zu bringen.
Das Haus in Chaclacayo wurde von den peruanischen Streitkräften als ein verdächtiger Ort eingestuft und stand unter ständiger Beobachtung. Das Misstrauen ging so weit, dass das Haus gestürmt wurde, um Beweise zu finden, die die Künstler in Verbindung mit dem bewaffneten Widerstand bringen sollte.
Durch gezielte und gut überlegte Intervention von Avellaneda, nahmen die Soldaten schließlich an einer Performance, in der Wüste hinter dem Haus, teil.
Die Grupo Chaclacayo arbeitete, nach der Präsentation in Lima, weiterhin in der Abgeschiedenheit der Wüste und intensivierte die Arbeit am Projekt. Freunde aus der näheren Umgebung und aus der Hauptstadt besuchten regelmäßig das Haus und nahmen an künstlerischen Aktionen der Gruppe teil.
„Mir war sehr bewusst unter welch privilegierten Umständen ich lebte und ich suchte immer wieder den Kontakt zur Realität. Ich wollte den Geruch der Wirklichkeit nicht missen, befreundete mich mit Opfern und Verfolgten des faschistischen Systems, fuhr zu den Friedhöfen, Straßenmärkten, Leichenhallen und vergessenen Stadtteilen, immer auf der Suche nach Resten der widersprüchlichen und zerrütteten peruanischen Gesellschaft, um diese in meine künstlerischen Objekte zu integrieren. Ich hatte keine Angst vor Verletzung, Folter oder Tod, meine Verpflichtung als Chronist stand im Vordergrund. Die gesammelten Objekte gaben mir Auskunft über die individuellen Lebens- und Leidenswege der ehemaligen Besitzer.“
Die Feindseligkeit, der repressiven Kräfte des Landes, gegenüber der Künstlergruppe, nahm erheblich zu. Schließlich stellte das Militär am Eingang des Grundstücks ein Schild auf, mit der Aufschrift: Betreten verboten, bei Zuwiderhandlung wird geschossen. Es musste ein Pfad, mittels eines Buschmessers, geschlagen werden, um zum Haus zu gelangen.
Inzwischen hatte Helmut Psotta erreicht, dass das Projekt in Europa bekannt wurde und dass eine Wanderausstellung mit den Ergebnissen in Deutschland durchgeführt werden sollte. Im Januar 1989 verließ die Grupo Chaclacayo Peru, um eine zweijährige Wanderausstellung mit der Präsentation des Projektes unter den Namen „TODESBILDER – Perú oder das Ende des europäischen Traums“ in Deutschland durchzuführen.